Verwaltungsrechtler und Strafrechtler

Es wurde schon verschiedentlich beklagt, dass Verwaltungsrechtler kein Strafrecht machen sollten, und es deshalb problematisch ist, dass verschiedene nebenstrafrechtliche Materien vom Bundesverwaltungsgericht und den öffentlich-rechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts zu beurteilen sind. Strafrechtler sind sich trennscharfe Normen und klar definierte Tatbestände gewohnt. Eine rechtsstaatliche Garantie, wie etwa die Unschuldsvermutung, ist eine Garantie. Die gilt. Und was gilt, das gilt, und nicht einmal etwas mehr, ein andermal etwas weniger. Verwaltungsrechtler hingegen sind es gewohnt, einzelfallbezogene Interessenabwägungen vorzunehmen. Keine Norm gilt Ihnen absolut.

Die Misere zeigt sich wieder einmal deutlich an zwei kürzliche ergangenen Entscheiden.

Im Urteil 6B-124/2016 vom 11. Oktober 2016 bestätigte die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts, dass eine im Unternehmen begangene Straftat eine objektive Strafbarkeitsbedingung für die Bestrafung eines Unternehmens nach Art. 102 Abs. 2 StGB darstelle. Wenn eine solche nicht vorliege, kann das Unternehmen nicht gestützt auf Art. 102 Abs. 2 StGB bestraft werden. Auch nicht ein bischen. Auch nicht, wenn das im Interesse der Strafverfolgung, der Gerechtigkeit oder eines anderen höheren Prinzips stehen würde. Nein, die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts legte Art. 102 StGB gestützt auf die Rechtslehre aus, schloss sich der herrschenden Lehre an und entschied den Fall. So geht Strafrecht. Die Worte „Interesse“ oder „Abwägung“ kommen in dem Urteil nicht vor.

Eine ganz andere Lektüre ist da das Urteil des Bundesverwaltungsgericht i.S. Nikon B-581/2012. vom 16. September 2016, bei welchem es wohlgemerkt nicht um eine Unternehmensstrafbarkeit nach Art. 102 StGB, aber dafür um eine Sanktion von rund 12.5 Mio CHF gemäss Art. 49a KG geht. Da liest man Passagen wie die folgenden (durchaus vorhandene Verweise auf Literatur und Rechtsprechung der Lesbarkeit halber entfernt):

5.1 Strafähnliche Rechtsnatur

Die in Art. 49a KG vorgesehenen direkten Sanktionen zeichnen sich durch einen abschreckenden sowie vergeltenden Zweck aus und sind hinsichtlich ihrer Höhe von der Schwere des Verstosses abhängig. Ihnen kommt daher ein pönaler bzw. strafähnlicher (oder „strafrechtsähnlicher“) Charakter zu, und zwar unbesehen des Umstands, dass die Massnahmen im Kartellrecht verankert sind. […] Die Qualifizierung hat zur Folge, dass im kartellrechtlichen Sanktionsverfahren grundsätzlich die verfassungs- und EMRK-rechtlichen Garantien zu beachten sind, die für das Strafverfahren gelten. Allerdings zählt das Kartellsanktionsverfahren primär zum Verwaltungsrecht, weshalb die Verfahrensgarantien der EMRK nach der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht in voller Strenge zur Anwendung gelangen. Zu beachten ist ferner, dass Kartell­sanktionen gemäss Art. 49a Abs. 1 KG einem Unternehmen auferlegt werden; Verfügungsadressaten sind juristische oder natürliche Personen. Auch juristische Personen sind grundsätzlich Träger verfassungsrechtlicher Verfahrensgarantien, doch sind Einschränkungen zu beachten, soweit sich solche aus der körperschaftlichen Rechtsnatur ergeben. Schliesslich gelten die strafprozessualen Garantien nicht absolut; vielmehr sind sämtliche involvierten Interessen einzelfallbezogen gegeneinander abzuwägen. Diese Grundsätze werden im Folgenden zu berücksichtigen sein.

[…]

5.3.2 Voraussetzungen und Inhalt des Aussage- und Herausgabeverweigerungsrechts im Kartellsanktionsverfahren (Verbot des Selbstbelastungszwangs bzw. Grundsatz „nemo tenetur se ipsum prodere vel accusare“) sind in der Lehre umstritten. Art. 16 VwVG, der vorliegend sinngemäss anwendbar ist (Art. 40 KG), verweist auf Art. 42 BZP. Aus dieser Bestimmung lässt sich bei weiter Auslegung ein Aussage- und Herausgabeverweigerungsrecht des an einer Abrede beteiligten Unternehmens herleiten. Im Übrigen besteht gemäss EGMR-Rechtsprechung gestützt auf Art. 6 EMRK ein generelles Recht des Beschuldigten, in einem Strafverfahren nicht zu seiner eigenen Verurteilung beitragen zu müssen, bzw. ein generelles Verbot, im Strafverfahren auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch ungebührlichen Druck oder Zwang gegen den Willen des Beschuldigten erlangt wurden. Nach der Praxis des Bundesgerichts können sich auch Unternehmen bzw. juristische Personen auf ein entsprechendes Aussage- und Herausgabeverweigerungsrecht berufen. Allerdings gilt dieses Recht nicht absolut; vielmehr ist unter Abwägung sämtlicher involvierter Interessen im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob ein ungebührlicher Druck oder Zwang ausgeübt wurde.

[…]

8.1.1 Bezüglich der strafähnlichen Natur direkter Sanktionen kann auf vorstehende Erwägungen verwiesen werden. Die Qualifizierung hat zur Folge, dass im kartellrechtlichen Sanktionsverfahren die verfassungs- und EMRK-rechtlichen Garantien zu beachten sind, welche auch für das Strafverfahren gelten. Allerdings gehört das Kartellsanktionsverfahren grundsätzlich zum Verwaltungsverfahrensrecht, weshalb die Verfahrensgarantien der EMRK nicht in voller Strenge zur Anwendung gelangen und im Übrigen nicht absolute Geltung beanspruchen, sondern in eine einzelfallbezogene Interessenabwägung einzubeziehen sind, wobei auch allfällige Besonderheiten zu berücksichtigen sind, soweit sie sich aus der Rechtsnatur von Unternehmen herleiten. Massgebend für das Verfahren sind die einschlägigen Vorschriften des Kartell- und Verwaltungsverfahrensgesetzes, vorbehältlich ergänzender Bestimmungen des Bundesrechts (Art. 4 VwVG). Grundsätzlich nicht zur Anwendung gelangen hingegen die Vorschriften des Strafprozessrechts sowie des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs, auch nicht gestützt auf Art. 333 Abs. 1 und 7 StGB. Teilweise wird in der Lehre ergänzend die analoge Anwendung einzelner strafprozessualer Bestimmungen postuliert.

8.1.2 Nach Art. 7 EMRK und Art. 15 des UNO-Pakts vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (SR 0.103.2) darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war (nulla poena sine lege; vgl. Art. 5 Abs. 1 BV und Art. 1 StGB). Die Straftat muss im Gesetz klar umrissen sein. Der Grundsatz ist verletzt, wenn jemand wegen eines Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet wird, wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei weitestgehender Auslegung nicht subsumiert werden kann, oder wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt wird, die rechtlich keinen Bestand hat. Allerdings bedürfen auch Strafgesetze der Aus­legung, wobei sich der Grad der erforderlichen Bestimmtheit nicht ab­strakt festlegen lässt, sondern vom Regelungsgegenstand sowie von den Norm­adressaten und der Schwere des Grundrechtseingriffs [Anmerkung: Nur zur Erinnerung, es geht hier um eine Sanktion von rund 12.5 Mio CHF!] abhängt. Beispielsweise hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den in der deutschen Gesetzgebung verwendeten Begriff „verwerflich“ als mit Art. 7 EMRK konform betrachtet.

Im Urteil in Sachen Publigroupe hat das Bundesgericht festgehalten, Art. 7 Abs. 1 KG genüge in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 KG den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Bezug auf die im Beispielkatalog erwähnten Verhaltensweisen. Gestützt darauf hat das Bundesverwaltungsgericht in den Urteilen in Sachen Elmex die erforderliche Bestimmtheit von Art. 5 Abs. 4 KG in Bezug auf Passivverkaufsverbote im Grundsatz ebenfalls bejaht. Zwar beruht die vorliegende Sanktion insofern nicht auf einer engen Auslegung von Art. 5 Abs. 4 KG, als es sich bei den strittigen Vertriebsklauseln in casu um indirekte und nicht-exklusive Gebietszuweisungen handelt; ein Verstoss gegen das Legalitätsprinzip ist darin angesichts des Gesetzeswortlauts jedoch nicht zu erkennen, zumal gemäss zitierter höchstrichterlicher Rechtsprechung das Bestimmtheitsgebot keine einschränkende Gesetzesauslegung vorschreibt. Nichts anderes gilt auch im Strafrecht (beispielsweise hat das Bundesgericht das Tätigen von gebührenpflichtigen Anrufen mit einem gestohlenen Mobiltelefon unter den Tatbestand des betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage im Sinne von 147 StGB subsumiert). Ohnehin nicht auf den Grundsatz nulla poena sine lege berufen kann sich die Beschwerdeführerin, soweit sie eine einschränkende Auslegung der Bestimmung von Art. 3 Abs. 2 KG fordert; diese Norm hat nicht einen materiellen Sanktionstatbestand zum Gegenstand, sondern regelt lediglich die Abgrenzung von Immaterialgüter- und Kartellrecht.

[…]

8.1.4 Die Beschwerdeführerin rügt weiter die fehlende ziffernmässige Obergrenze der Sanktion gemäss Art. 49a Abs. 1 KG. Zutreffend ist, dass das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot nicht nur für den Tatbestand, sondern grundsätzlich auch für die Rechtsfolge gilt. Art. 49a KG sieht als Sanktion die Belastung mit einem Betrag bis zu zehn Prozent des in den letzten drei Geschäftsjahren in der Schweiz erzielten Umsatzes vor. Die Sanktion ist mithin betragsmässig begrenzt; eine bezifferte Obergrenze wird jedoch nicht genannt. Gestützt darauf wird in der Lehre mitunter die Auffassung vertreten, Art. 49a KG genüge in diesem Punkt den Bestimmtheitsanforderungen nicht. Bundesgericht und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte haben sich zur Frage bisher nicht geäussert. Bussen ohne ziffernmässige Obergrenze sind unter anderem im schweizerischen Steuerstrafrecht verbreitet. Zu beachten ist vorliegend die Doppelnatur von Art. 49a KG als verwaltungsrechtliche Sanktion mit strafähnlichem Charakter. Während im Kernstrafrecht die Strafe mit der Einziehung unrechtmässig erlangter Gewinne (vgl. Art. 69 ff. StGB) einhergeht, ist im Kartellrecht eine selbständige Restitution nicht vorgesehen (auch keine adhäsionsweise Klagemöglichkeit, vgl. Art. 12 ff. KG); insofern dient die Verwaltungssank­tion nicht nur der Durchsetzung der Wettbewerbsordnung, sondern – in pauschaler Form – auch der Abschöpfung der im Einzelfall nur schwer zu beziffernden Kartellrendite sowie der Kompensation des volkswirtschaftlichen Schadens. Dies lässt eine umsatzbasierte Sanktion unter Berücksichtigung von Dauer und Schwere des unzulässigen Verhaltens sowie des mutmasslichen Gewinns als gerechtfertigt erscheinen, zumal dem Unternehmen die eigenen Umsatzzahlen bekannt sind (vgl. Botschaft KG-Revision 2003, S. 2037). Das Bundesverwaltungsgericht hat wiederholt die Auffassung vertreten, dass Art. 49a KG den Bestimmtheitsanforderungen in Bezug auf die Rechtsfolge genügt. Diese Auffassung wird auch in der Lehre vertreten. Die Regelung entspricht überdies jener in der Europäischen Union. Eine Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege ist vorliegend nicht gegeben.

[…]

8.2 Verantwortlichkeit

Die Beschwerdeführerin macht weiter geltend, sie werde für fremdes Verhalten mit einer Sanktion belegt (Beschwerde, Rz. 119 ff.). Zudem habe die Vorinstanz weder den Nachweis einer Sorgfaltspflichtverletzung geführt noch das Bestehen eines Rechtsirrtums geprüft (Beschwerde, Rz. 104 ff., 894 ff.). Dies verletze das Schuldprinzip.

[…]

8.2.4 Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts an die strafrechtliche Zuordnung kartellrechtlich verpönten Verhaltens keine überzogenen Anforderungen zu stellen, da andernfalls die Bestimmung von Art. 49a KG, die vom Normzweck her auf juristische Personen zugeschnitten ist, ins Leere liefe. Dies wird – in Übereinstimmung mit den Materialien – auch in der Literatur überwiegend gefordert, zumal das Verhalten der Unternehmensverantwortlichen kaum je im Einzelnen feststellbar ist. Ohne gegenteilige Indizien wird daher in der Regel vom Vorliegen einer Abrede auf Inkaufnahme der mit der Abrede verbundenen Wettbewerbswirkungen zu schliessen sein (Eventualvorsatz), wobei bereits eine sorgfaltspflichtwidrige Verursachung als tatbestandsmässig zu beurteilen ist (Fahrlässigkeit); die widerlegbare Vermutung eines entsprechenden Wissens und Willens ist mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Ebenso wird im Umstand, dass ein Kartellrechtsverstoss im Rahmen der Unternehmenstätigkeit stattgefunden hat, ein Hinweis auf eine mangelhafte Organisation zu erkennen sein, es sei denn, es liegen Hinweise vor, welche das Unternehmen in diesem Punkt entlasten; dabei sind jedoch hohe Anforderungen an die Ernsthaftigkeit und Eignung eines allfälligen Com­pliance-Programms zu stellen.

[…]

Vorliegend wurde die Sanktion von der Vorinstanz allerdings nicht der Muttergesellschaft auferlegt (Nikon Europe B.V., Amsterdam bzw. Nikon Corporation, Tokyo), sondern der schweizerischen Konzernniederlassung (Beschwerdeführerin). Das Bundesverwaltungsgericht hat unlängst in einem obiter dictum festgehalten, dass ein solches Vorgehen als zulässig zu beurteilen ist, wenn ein Verfahren gegen die im Ausland domizilierte Muttergesellschaft mit unverhältnismässigem Aufwand verbunden wäre. Die Meinungen in der Lehre dazu sind geteilt. In der Europäischen Union wird von einer gesamtschuldnerischen Haftung sämtlicher Konzerngesellschaften einer Wirtschaftseinheit ausgegangen. Der Einwand der Beschwerdeführerin, sie werde im Ergebnis für fremdes Verhalten bestraft, verfängt dabei nicht. So ist im Rahmen von Art. 7 KG unbestritten, dass sich die Tochtergesellschaft die kumulierte Konzernmacht anrechnen lassen muss. Die von der Beschwerdeführerin anerkanntermassen zu verantwortenden inländischen Importverbote sind entsprechend im Lichte der konzernweiten Vertriebspolitik zu beurteilen, zu welcher auch die von der Vorinstanz beanstandeten ausländischen Exportverbote gehören. Ohnehin nicht von „fremdem“ Verhalten gesprochen werden kann, soweit die Vor­instanz der Beschwerdeführerin eine aktive Mitwirkung bei der Umsetzung der ausländischen Exportverbote anlastet. Die Verantwortlichkeit der Beschwerdeführerin für das ihr vorgeworfene Verhalten ist damit in casu auch innerhalb des Konzerns gegeben.

Mein Vorschläg wäre es, Sanktionen in Millionenhöhe der Beurteilung von Strafrechtlern zu überlassen. Ganz gleich, gestützt auf welchen Erlass sie ausgesprochen werden. Das macht für die Betroffenen nämlich keinen Unterschied.

Verwaltungsrechtler und Strafrechtler

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